Essay #06

Kritik am Johannesevangelium

Das Johannesevangelium und seine historische Integrität, waren lange starken Angriffen unterworfen. Einige glauben, dass das Evangelium nicht von Johannes dem Apostel geschrieben wurde, weil kein Zeitgenosse von Jesus solch eine hohe Ansicht von ihm haben konnte. Zeitweise gab es eine skeptische Haltung diesem Werk gegenüber, welches die Göttlichkeit von Jesus Christus so deutlich darstellt. Aufgrund weiterer Nachforschungen und Entdeckungen ist heute dieser Skeptizismus jedoch grösstenteils verschwunden. Nichtsdestotrotz halten sich einige Forscher und Theologen noch immer zurück, das Evangelium als komplett verlässlich anzuschauen.

Jüngste Herausforderungen der historischen Integrität

Eine oft erwähnte Schwierigkeit ist verbunden mit den Problemen, welche bei jeder Theorie von einheitlicher Urheberschaft auftreten. Die Unterschiede im Stil der griechischen Sprache und die Probleme bei der Unterteilung und Wiederholungen bei Diskursmaterial, wurden als Beweise angeführt, dass mehr als ein Autor an der Erstellung des Evangeliums involviert war. Deshalb wurden in den modernen Zeiten verschiedene Versuche gemacht, die Art der Zusammensetzung zu erklären. Eine Theorie erklärt die angebliche Verwirrung im Evangelium dadurch, dass die Abschnitte unabsichtlich falsch angeordnet wurden. Dementsprechend versucht sie, das Problem damit zu beheben, die Abschnitte neu anzuordnen. Eine andere Herangehensweise erklärt die offensichtlichen stilistischen Unterschiede und andere Probleme. Sie vertritt die Meinung, dass der Zusammensteller des Evangeliums eine Sammlung von unabhängigen schriftlichen Quellen in seiner Arbeit zusammengetragen hat. Eine dritte vorgeschlagene Lösung liegt darin, dass das Evangelium in mehreren Ausgaben erschienen war, bis es in seiner heutigen Form angelangt ist.

Die wahrscheinlich aktuellste Theorie nennt sich «Fortlaufende Zusammensetzung». Sie kombiniert Elemente der anderen Theorien und identifiziert fünf Etappen des Wachstums und der Ausschmückung in der Entwicklung des Evangeliums. Etappe eins war die Herauskristallisierung von einer Menge an traditionellem Material von Jesu Worten und Taten. Dieses Material war ähnlich dem Material der synoptischen Evangelien, hatte jedoch unabhängige Quellen. Der Beitrag von Johannes, dem Sohn des Zebedäus, war eine Hauptquelle in dieser historischen Tradition. In Etappe zwei wurde dieses Material über mehrere Jahrzehnte weiterverarbeitet, so dass es die Form und den Stil der individuellen Geschichten im vierten Evangelium hervorbrachte. Diese Entwicklung fand unter dem Patronat von einer Schule statt, die Gedanken und Ausdruck nahe beieinander führten, geleitet durch einen Meisterprediger oder -evangelisten. Dieser theoretischen Schule wird ihr Ursprung in den johanneischen Briefen und in der Offenbarung zugeschrieben. Etappe drei beinhaltete, dass das erarbeitete Material in ein fortlaufendes Manuskript gefasst wurde, die erste Ausgabe des vierten Evangeliums. Die steuernde Figur von Etappe zwei, der Evangelist, schrieb dieses Werk in Griechisch, indem er von einer grösseren Auswahl an ausgearbeiteten johanneischem Material aus Etappe drei zurückgriff. Etappe vier bestand darin, eine zweite Ausgabe zu erstellen, welche die resultierenden Probleme, die in Etappe drei aufgetreten sind, beheben sollte. In dieser Ausgabe wurden Inhalte hinzugefügt, die zuvor noch nicht verfügbar waren. In Etappe fünf wurde das Werk ein letztes Mal von einer anderen Person als dem Evangelisten überarbeitet. Dieser Redaktor war vermutlich ein enger Freund oder Jünger des Evangelisten. Er war sicherlich ein Mitglied der Schule, die in Etappe zwei beschrieben wurde. Ein Hauptbeitrag des Redaktors war, das zusätzliche johanneische Material aus Etappe zwei zu integrieren, welches nicht in frühere Ausgaben aufgnommen wurde. Weil dieses aus der Verkündigung des Evangelisten entstammte, würde es sich in Stil und Vokabular nicht von den zwei vorangehenden Ausgaben unterscheiden. Kapitel 21  war Teil dieses neuen Materials, welches durch den Redaktor hinzugefügt wurde und nicht vom Evangelisten.

Das bedeutet, die Theorie der «Fortlaufenden  Zusammensetzung» identifiziert drei wichtige Individuen im Prozess der Entstehung des vierten Evangeliums: Johannes der Apostel, der als Autor genannt wird; der anonyme Evangelist; und der anonyme Redaktor. Der Prozess soll von Anfang bis Ende zwischen etwa 40 n.Chr. bis ungefähr 100 n.Chr. stattgefunden haben, mit der Etappe drei etwa zwischen 75 n.Chr. und 85 n.Chr. Von Johannes dem Apostel wird gesagt, dass er bis kurz vor der Vollendung des Werkes des Redaktors gelebt haben soll.

Die Schwierigkeiten, denen diese Theorie begegnet, sind zahlreich. So bleibt die Frage unbeantwortet, warum Johannes der Apostel als Augenzeuge der Ereignisse in den Hintergrund verschwand, während der Evangelist die Führung in der Schule übernahm, die ihre Tradition von Johannes selbst übernahm. Genauso wird die Frage aufgeworfen, ob Johannes stillschweigend zusah, während unhistorische Verschönerungen über das Leben von Jesus in seinen eigenen Reihen vorgenommen wurden. Weiter die Frage, wie die drei Individuen, egal wie nahe sie sich gestanden haben, ein Muster in Sprache und Schrift entwickeln konnten, dass fast identisch war? Konnte eine Tradition, die so von Übertreibungen und Mythen befleckt war sich unangefochten und universell in nur sechs kurzen Jahrzehnten verbreiten und Akzeptanz finden? Dies konnte beim besten Willen nicht geschehen sein. Dies und andere Anfechtungen an der historischen Richtigkeit des Evangeliums, können sich selbst nicht als glaubhaft darstellen.

Verhältnis zu den Synoptikern

Andere Auseinandersetzungen mit dem Johannesevangelium waren weit fruchtbarer, da diese sich mit den vorhandenen objektiven Daten befassten. Doch auch hier stand die Integrität des Buches auf dem Spiel.

Die kritischen Fragen, die das vierte Evangelium umgeben, sind beinahe alle miteinander verwandt. Deshalb führt die Diskussion einer Thematik unweigerlich dazu, dass auch andere Bereiche mit einbezogen werden müssen. Dies gilt für die Fragen der Autorenschaft, der Datierung oder des bestehenden Verhältnisses zwischen dem Johannesevangelium und den Synoptikern.

Die ersten drei Evangelien, wie sie traditionellerweise angeordnet werden, werden als die synoptischen Evangelien bezeichnet, weil sie das Leben und den Dienst Jesu aus einer ähnlichen Perspektive beobachten (Synoptik bedeutet «gemeinsam sehen»). Markante und umfangreiche Ähnlichkeiten können sowohl im Anhalt, der Anordnung und in der Formulierung beobachtet werden. Diese Ähnlichkeiten lassen sich leicht beobachten, wenn man die in Spalten dargestellten Parallelstellen in dieser Harmony zur Hand nimmt.

Genauso gut zu beobachten ist der Fakt, dass das Johannesevangelium eine eigene Klasse für sich bildet. Es können mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten zwischen Johannes und den Synoptikern beobachtet werden. Unterschiede im Inhalt sind die offensichtlichen Unterschiede. Johannes erzählt nichts über die Jungfrauengeburt, die Taufe, die Versuchung, die Verklärung, die Einsetzung des Abendmahls, die Qual im Garten Gethsemane, oder die Auffahrt. Die für die Synoptiker typischen Gleichnisse und Heilungen von Dämonisierten und Leprakranken sind spürbar abwesend. Es werden auch viele weniger signifikante Inhalte übersprungen.

Genauso kritisch ist die Tatsache, dass Johannes viel Material beinhaltet, welches nur dort vorkommt. Der Johannesprolog ist einzigartig (1,1-18). Es ist Johannes, der den frühen Dienst in Judäa festhält (Kap. 2-3), inklusive solch bemerkenswerten Ereignissen wie das erste Wunder oder die Diskussion mit Nikodemus. Es ist Johannes, der die Details der Reise durch Samarien nach Galiläa festhält, inklusive der Begegnung mit der samarischen Frau bei Sychar. Höhepunkte des restlichen johanneischen Sonderguts sind die Heilung eines Gelähmten am Sabbat in Jerusalem, das Davonlaufen vieler von Jesus’ Jünger nach der Aufforderung sein Fleisch zu essen, die Heilung des Blinden in Jerusalem, die Erzählung über den guten Hirten, die Auferstehung von Lazarus, die Fusswaschung, die Rede im Abendmahlssaal, das hohepriesterliche Gebet und der übernatürliche Fischfang. Zusammengefasst kann gesagt werden, dass es einen offensichtlichen Unterschied im Inhalt der Synoptiker und dem Johannesevangelium gibt.

Damit sind aber noch nicht alle Unterschiede erwähnt, die das Johannesevangelium abgrenzen. Die Art, wie Johannes die Geschehnisse präsentiert, ist auch unterschiedlich. Das erwähnte Sondergut weist bereits ein wenig darauf hin. Johannes ist weniger erzählerisch und enthält mehr Reden im Vergleich zur Charakteristik der Synoptiker, die von kurzen Aphorismen und Gleichnissen geprägt sind. Das Buch stellt Jesus mehr in der Rolle eines Rabbis dar. Jesus’ Art zu lehren, wie sie in den Synoptikern vorkommt, zielt mehr auf das gewöhnliche Volk in Galiläa ab, während Johannes die gebildetere Bevölkerung in und um Jerusalem anspricht.

Es können auch Unterschiede in der Chronologie zwischen Johannes und den Synoptikern gefunden werden. Es gibt zum Beispiel die Frage, ob es eine oder zwei Tempelreinigungen gab. Die Datierung des Abendmahls ist ebenfalls ein Problem (siehe Essay #10 – Der Tag und das Jahr der Kreuzigung von Jesus). Noch weiterreichender in seinen Implikationen ist die Dauer von Jesus’ Dienst. Die Synoptiker sprechen scheinbar von einem Dienst über ein einziges Jahr, obwohl die chronologischen Angaben hier nur vage sind. Aber Johannes spricht von mehr als drei Jahren (siehe Essay #11 – Die Chronologie von Jesus’ Leben).

Unsere Diskussion zum Verhältnis zwischen Johannes und den Synoptikern muss auch die Ähnlichkeiten berücksichtigen, auch wenn diese nicht immer offensichtlich sind. Gerade weil die Unterschiede nicht zwingend Gegensprüche oder Unvereinbarkeiten beinhalten, werden die Ähnlichkeiten besonders wichtig. Mindestens zwei der synoptischen Evangelien und Johannes enthalten Material über Johannes den Täufer, die Speisung der fünftausend, der Sturm auf dem See, der triumphale Einzug in Jerusalem, Marias Salbung von Jesus, und Teile des Abendmahls und der Passionserzählung. Zusätzlich dazu geschehen ähnliche Inhalte oft in derselben Reihenfolge, wie in den Synoptikern. Es gibt nur wenige verbale Ähnlichkeiten, wie etwa in gesprochenen Worten von Jesus oder anderen.

Diese Ähnlichkeiten und Unterschiede zu identifizieren, reicht jedoch nicht. Auf welches Verhältnis zwischen den Synoptikern und Johannes weisen sie hin?

  1. Eine oft vertretene Ansicht ist, dass Johannes in der Absicht geschrieben hat, die Synoptiker zu ersetzen. Aber wenn das Johannesevangelium einzeln betrachtet wird, dann gibt es nur einen bruchhaften Bericht von Jesus’ Leben und Dienst wieder. Das jemand annehmen würde, dass dieser Bericht eins oder gar alle der synoptischen Evangelien ersetzen könnte, ist zu weit hergeholt.
  2. Eine zweite Ansicht sagt, dass das Johannesevangelium eine Interpretation von Jesus und seinen Lehren für die Heidenvölker darstellt. Diejenigen, die diese Ansicht vertreten, nehmen normalerweise an, dass Johannes’ Absichten nicht historischer Natur waren. Ist diese Annahme falsch, dann zerfällt die ganze Theorie. Und wenn Johannes wirklich die anderen Evangelien interpretiert hat, stellt sich wiederum die Frage, warum so wenig Gemeingut darin vorhanden ist.
  3. Nahe daran sind die Ansichten, dass Johannes sich beim Schreiben auf einen oder mehrere der Synoptiker verlassen hat. Das Johannesevangelium sei eine Neubearbeitung des synoptischen Materials. Jedoch sind Versuche zur Identifizierung solcher abhängigen Abschnitte nicht umsetzbar, da Johannes stilistisch einheitlich ist. Weiter sind die Ähnlichkeiten nicht signifikant genug, um die Annahme von Johannes’ Abhängigkeit von den Synoptikern zu rechtfertigen. Vielmehr scheint Vielfalt die Charakteristik zu prägen. Johannes erwähnt Ereignisse, die in den Synoptikern gar nicht erwähnt werden, und bei Erzählungen von gleichen Ereignissen, werden andere Details erwähnt.
  4. Diese Betrachtungen schlagen eine vierte Ansicht vor – dass das Johannesevangelium unabhängig von den Synoptikern ist, dass es nicht zur Interpretation oder als Ersatz geschrieben wurde, dass es in keiner Form abhängig ist. Diese Theorie der Unabhängigkeit sollte den ersten drei Ansichten vorgezogen werden, da sie noch mehr zu bieten hat. Sie fordert die Annahme vieler Evangeliumskritiken heraus, dass die Evangelien ein Dokumentationsserie mit literarischer Abhängigkeit voneinander bilden.

Fürsprecher der Unabhängigkeits-Theorie weisen darauf hin, dass in Abschnitten, von welchen angenommen wird, dass Johannes auf markanisches Material zurückgreift, diese so markant verändert wurden, dass entweder Johannes’ Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden muss, oder die literarische Abhängigkeit selbst angezweifelt werden sollte. Es gibt jedoch nichts in Johannes, was sonst Zweifel auf seine Glaubwürdigkeit werfen würde. Die Berührungspunkte und Ähnlichkeiten zwischen Johannes und den Synoptikern weisen viel mehr auf eine ineinandergreifende orale Überlieferungstradition über Jesus hin. Die Tradition war gefestigt und hatte einen grossen Respekt für historische Richtigkeit. Johannes, wie auch die Synoptiker-Autoren, würden sich auf diese und ihre eigenen Erinnerungen verlassen haben (in der Annahme, dass er Johannes der Apostel war).

Es spricht viel für eine solche Ansicht von Johannes’ Verhältnis zu den Synoptikern und ist eine hilfreiche Korrektur zu den bereits diskutierten Ansichten. Einige Fürsprecher der Unabhängigkeits-Theorie halten jedoch daran fest, dass Johannes nichts von den Synoptikern wusste oder dass er ohne Bezugnahme auf deren Inhalt oder Absicht geschrieben hat. Weil es schwierig ist, sich eine Situation im späten ersten Jahrhundert vorzustellen, in welcher die Synoptiker unbekannt sind, haben einige ein früheres Datum für Johannes vorgeschlagen, möglicherweise sogar früher als alle Synoptiker. Aber eine solch extreme Ansicht von Johannes’ Unabhängigkeit ist weder notwendig, noch der beste Umgang mit den Nachweisen.

Es ist vorzuziehen, dass die grundlegend literarische Unabhängigkeit bei Johannes mit der ergänzenden Ansicht des Verhältnisses zu den Synoptikern kombiniert wird. Entsprechend dieser Ansicht hat Johannes die Synoptiker nicht als Quellen benutzt, dafür aber anscheinend im Wissen ihrer Inhalte geschrieben. Er nahm an, dass seine Leser deren Inhalte auch kannten. Es scheint als ob eine seiner Absichten war, das synoptische Material ganz bewusst zu ergänzen. Johannes füllte die Lücken und hat unnötige Duplikationen vermieden. Deshalb hat Johannes sich eher auf den judäischen, als auf das galiläischen Dienst von Jesus konzentriert. Durch seine Erwähnung von drei Passahfesten und mögliche Implikationen eines vierten macht er klar, dass Jesus’ Dienst zwischen drei und vier Jahren angedauert hat. Dies wird durch die Synoptiker nicht klar. Auf der anderen Seite steht das Auslassen wichtiger synoptischer Inhalte, wie die Lehre über das Himmelreich oder die Einsetzung von Anordnungen, was nur schwer erklärbar ist, ausser wir gehen davon aus, dass er die Synoptiker kannte und keinen Bedarf in der Wiederholung deren Inhalte sah. Deshalb werden Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Johannes und Synoptikern am besten durch eine Ansicht erklärt, die die literarische Unabhängigkeit akzeptiert und Johannes’ Absicht in der Ergänzung der Synoptiker sieht. Dies scheint das Verhältnis des vierten Evangeliums zu den ersten drei zu erklären.

Autorenschaft des vierten Evangeliums

Traditionell wird Johannes der Apostel als der Autor des vierten Evangeliums genannt. Eine junge aufgekommene Variation dieser Sicht apostolischer Autorenschaft benennt Johannes als Quelle der historischen Inhalte des Evangeliums, schlägt aber vor, dass ein oder mehrere Jünger von Johannes das Evangelium aufgeschrieben haben. Unter Johannes‘ Einfluss sollen sie seine Erinnerungen in ihren Umfeldern und für deren Bedürfnisse weitergepredigt und weiterentwickelt haben. Diese Ansicht deckt sich mit der modernen Zusammensetzungslehre der synoptischen Evangelien (siehe Essay #04 – Formkritik und Essay #05 – Redaktionskritik). Dieser Vorschlag tut dem Johannesevangelium selbst jedoch Unrecht, indem er die eigenen Angaben des Evangeliums ignoriert, dass der Jünger, den Jesus lieb hatte, dieses Buch geschrieben hat (Joh. 21,20+24).

Andere haben vorgebracht, dass der Johannes, dem die frühen Traditionen die Autorenschaft zuschreiben, Johannes der Älteste war, wie Papias ihn erwähnt, wie bei Eusebius zitiert. Eusebius‘ Interpretation von Papias‘ Aussage unterscheidet zwischen zwei Personen in Ephesus mit dem Namen Johannes. Die Motivation für eine solche Unterscheidung ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass einflussreiche christliche Leiter in Alexandrien die millenialistischen Ansichten der Offenbarung in Frage stellten und deshalb die apostolische Autorenschaft dieses letzten Buches der Bibel anzufechten suchten. Sie beriefen sich dabei darauf, dass ein anderer Johannes in Ephesus zur Zeit der Erstellung erwähnt wird. Es ist jedoch keinesfalls klar, ob Papias in seiner zitierten Aussage beabsichtigt hat, Johannes den Ältesten von Johannes dem Apostel zu unterscheiden. Ein gutes Argument, das vorgebracht werden kann, ist, dass es sich dabei um dieselbe Person handelte, da sonst Verwirrung in der traditionellen Zuweisung der Autorschaft mit Johannes dem Apostel entstehen könnte.

Einige Theorien über die nicht-johanneische Autorenschaft verwerfen externe Hinweise für Johannes als Autoren und argumentieren, dass interne Hinweise die apostolische Autorenschaft bereits verunmögliche. Es ist jedoch so, dass sowohl externe, wie auch interne Hinweise die Autorenschaft von Johannes dem Apostel unterstützen.

Irenäus ist der erste der klar sagt (180 n.Chr.), dass Johannes der Apostel dieses Evangelium geschrieben hat und dass es durch Johannes in Ephesus veröffentlicht wurde, wo er zu dieser Zeit residierte. Andere Beweise aus dem späten zweiten Jahrhundert bezeugen, dass Johannes der Apostel im späten ersten Jahrhundert in Ephesus gelebt hatte. Aber Irenäus‘ Aussage ist besonders wichtig; er war ein Jünger von Polykarp und Polykarp kannte den Apostel Johannes persönlich. Somit gibt es hier eine direkte Linie zwischen Irenäus und Johannes mit nur einem verbindenden Zwischenstück – Polykarp. Schreiber nach Irenäus setzen die apostolische Autorenschaft des vierten Evangeliums voraus.

Es gab einen Zeitpunkt, an dem Kritiker des neuen Testaments, die der Lehre F.C. Baur folgten, argumentierten, dass das vierte Evangelium erst ab 160 n.Chr. geschrieben wurde, wodurch Johannes nicht der Autor sein könnte. Die Entdeckung eines Papyrusfragments in der Sammlung der John Rylands Library, hat diese Ansicht jedoch nichtig gemacht. Das Fragment (P52) wird nicht auf später als 150 n.Chr. und möglicherweise sogar ab 130 n.Chr. datiert und stammt aus einer Gemeinschaft, die entlang des Nils im Hinterland von Ägypten lebten. Wenn man nun die Zeit berechnet, die für den Vorgang des Kopierens und der Verbreitung benötigt wird, um eine solch abgelegene ägyptische Gemeinschaft zu erreichen, werden die Wurzeln dieses Evangeliums mit Leichtigkeit zumindest in das späte erste Jahrhundert datiert, als Johannes höchstwahrscheinlich noch lebte.

Nirgendwo im vierten Evangelium bezeichnet sich der Autor mit seinem Namen und die Interpretation der internen Hinweise ist der vorgefassten Meinung des individuellen Kritikers unterworfen. Nichtsdestotrotz passt der folgende Beweis gut (viele würden sogar sagen am besten) mit der apostolischen und johanneischen Autorenschaft. Der Schreiber erhebt den Anspruch, ein Augenzeuge gewesen zu sein (1,14 / 19,35 / 21,24-25). Er hat ein genaues Wissen von jüdischen Bräuchen und der israelischen Topographie vor der Zerstörung Jerusalems in 70 n.Chr. Er wendet die Art von lebendigen, nebensächlichen Detailerklärungen an, die man von einem Augenzeugen erwartet (2,6 / 6,19 / 21,9). Sein Schreibstil ist semitisch. Um noch spezifischer zu werden, bezeichnet der Autor sich als den Jünger, den Jesus lieb hatte (21,20+24). Jakobus, Johannes und Petrus formten den inneren Kreis der Jünger, die Jesus am nächsten standen (Mk. 5,37 / 9,2; Lk. 22,8). Jakobus starb bereits früh in der Kirchgengeschichte den Märtyrertod (Apg. 12,1-5), zu früh, um das Evangelium geschrieben zu haben. Der Jünger, den Jesus lieb hatte wird in 13,23 und 21,7 von Petrus unterschieden. Durch den Eliminierungsprozess, muss es sich um Johannes, den Sohn des Zebedäus, handeln. Einer aus der Gruppe, aus der “der Jünger, den Jesus lieb hatte”, hervorgehoben wurde (Joh. 21,2.20). Obwohl der geliebte Jünger nicht beim Namen genannt wird, wird gerade diese Anonymität am besten mit der Autorenschaft des Apostels Johannes erklärt.

Datierung des vierten Evangeliums

Obwohl es unmöglich ist, dieses Evangelium mit Sicherheit zu einzuordnen, datieren es die meisten Bibelgelehrten heute in die letzten zehn oder fünfzehn Jahre des ersten Jahrhunderts, oder sehr früh in das zweite Jahrhundert. Diese Ansicht wird auch von den frühen Kirchenvätern unterstützt. Wie bereits erwähnt, erlaubt die frühe Datierung des P52-Fragments, praktisch keine spätere Einordnung. Kritiker, die dieses Evangelium entweder als Korrektur oder als Zusatz der Synoptiker erachten, müssen die Erstellung offensichtlich nach einem oder mehreren der Synoptiker einordnen. Deshalb bevorzugen sie meist ein späteres Datum, obwohl es dann schwierig wird, die apostolische Autorenschaft nach 100 n.Chr. anzurechnen.

Gelehrte, die voraussetzen, dass der Autor die Synoptiker entweder nicht kannte oder nicht verwendete, sehen die Möglichkeit, das Evangelium bereits sehr früh zu datieren, möglicherweise sogar als das erste aller Evangelien. Unter dieser Ansicht ist die Annahme, dass das Evangelium vor 70 n.Chr. zu datieren ist, am einfachsten aufrechtzuerhalten. Es gibt jedoch keine überzeugenden Gründe, um auf ein solch frühes Datum bestehen zu können; diejenigen, die das Johannesevangelium als bewusste Ergänzung zu den Synoptikern sehen, datieren es zwischen 85 n.Chr. bis 100 n.Chr.

Schlussbemerkung

Da das Johannesevangelium keine unüberwindbaren Hindernisse in seinem Verhältnis zu den synoptischen Evangelien aufweist und auch keinen unüberwindbaren Schwierigkeiten in seiner apostolischen Autorenschaft und Datierung begegnet, gibt es keine berechtigten Gründe, um dessen Anspruch anzufechten, dass es sich dabei um einen genauen Bericht vom Leben Jesu handelt. Jesus wurde von seinen Zeitgenossen als Gott erkannt, so wie auch Johannes ihn darstellt.

Dr. Robert L. Thomas

Dr. Stanley N. Gundry

Weiterführende Literatur

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Hiebert, D. Edmond. An Introduction to the New Testament. The Gospels and Acts. Vol. 1. Chicago: Moody, 1975. Pp. 192-213, 222-26.

Morris, Leon. Studies in the Fourth Gospel. Grand Rapids: Eerdmans, 1969.

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